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Staat im Ausverkauf: Privatisierung in Deutschland
Ort / Verlag
Campus Frankfurt / New York
Erscheinungsjahr
2021
Link zum Volltext
Quelle
Alma/SFX Local Collection
Beschreibungen/Notizen
Inhalt
Staat im Ausverkauf - ein Weckruf 7
Ein lukrativer Markt: das Bildungssystem 17
Kinder als Kunden: Krippen, Kitas und Kindergärten 19
Unterricht aus der Marketingabteilung: die Schulen 21
Profit vor Pädagogik: die Privatschulen 38
Im Notfall zahlt der Staat Lehrgeld: die Hochschulen 47
Heimlicher Gewinner: die Bertelsmann Stiftung 57
Was nur die öffentliche Bildung leisten kann 59
Die Privatwirtschaft hat Vorfahrt: das Verkehrswesen 61
Entgleisungen der Privatisierung: die Deutsche Bahn 62
Freie Fahrt für freie Investoren: der Straßenverkehr 88
Destination Privatisierung: die zivile Luftfahrt 98
Was nur die öffentliche Verkehrsplanung leisten kann 105
"War sells": die Bundeswehr 109
Privatisierungen in den USA: Vorbild oder Mahnung? 112
Die Privatwirtschaft im Einsatz: Service- und Kernaufgaben 115
Demokratie in Gefahr: die Folgen der Privatisierung 130
Privatisierung der Lebensrisiken: Rente und Arbeit 135
Lobbyisten als Profiteure: der Sozialstaat 137
Rendite statt Rente: die Privatisierung der Altersvorsorge 144
Privatsache Arbeitslosigkeit: Hartz IV 152
Entsolidarisierung: Gewinner und Verlierer der Reformen 156
Der große Postraub: Post und Telekommunikation 161
Prekarisierung durch Privatisierung: die Deutsche Post 163
Von der Behörde zum Global Player: die Deutsche Telekom 171
Krankheit Ökonomisierung: das Gesundheitswesen 177
Privatisierung und Entsolidarisiung:
die gesetzlichen Krankenkassen 178
Der Wirkstoff Betriebswirtschaft: die Krankenhäuser 187
Warum der Gesundheitsmarkt kein freier Markt werden kann 199
Kostentreiber Privatwirtschaft: die kommunale Versorgung 203
Der Staat als Geisel: die öffentlich-privaten Partnerschaften 205
Sorgenkinder: Abfallentsorgung
und kommunale Gebäudereinigung 216
Wohnungen als Ware: die Wohnungsbaugesellschaften 222
Konsumgut statt Lebenselixier: die Wasserversorgung 225
Was die Kommunalwirtschaft besser kann
als die Privatwirtschaft 227
Wem gehört was warum? Wem soll was gehören? 229
Aus Fehlern lernen 231
Gemeinwohlorientierung versus Gewinnorientierung 234
Die Notwendigkeit staatlicher Wirtschaftstätigkeit 238
Renaissance des Staates? 242
Dank 249
Literatur 250
Tim Engartner ist Professor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und Direktor der Akademie für Bildungsforschung und Lehrerbildung. Er veröffentlicht regelmäßig Artikel in Tages- und Wochenzeitungen (ZEIT, FAZ, FR, taz, Freitag, SZ).
Staat im Ausverkauf - ein Weckruf
Fahrpreiserhöhungen, Bahnhofsschließungen, Lok- und Oberleitungsschäden, Weichen- und Signalstörungen, Verzögerungen im Betriebsablauf aufgrund "dichter Zugfolge" - immer wieder gerät die Deutsche Bahn aufs Abstellgleis. Als internationaler Mobilitäts- und Logistikdienstleister konzentriert sich das "Unternehmen Zukunft" (Eigenwerbung) längst auf Frachttransporte zwischen Dallas, Delhi und Den Haag statt auf die Fahrgastbeförderung zwischen Delmenhorst, Dinslaken und Düren. Beinahe zwei Drittel seines Umsatzes erzielt der einst größte Arbeitgeber der Bundesrepublik inzwischen mit bahnfremden Dienstleistungen. Der Global Player vernachlässigt den inländischen Schienenverkehr und setzt stattdessen auf profitable Fluggesellschaften (Bax Global), Lkw-Speditionen (Stinnes), Fuhrparks (Bundeswehr) oder den Ausbau des Schienenverkehrs in Indien und Saudi-Arabien.
Auch die Deutsche Post pflegt seit dem Jahr 2000 ihren Börsenkurs statt ihre Kunden und Beschäftigten. Um die "Aktie Gelb" attraktiv zu machen, wurden Tausende sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse durch 400-Euro-Jobs ersetzt, während sich der Vorstandsvorsitzende Frank Appel zuletzt über Bezüge von 5,2 Millionen Euro freuen durfte. Mini-, Midi- und Multi-Jobber sowie Zeit- und Leiharbeiter stellen Briefe und Pakete im Auftrag oder als "Servicepartner" des Konzerns zu. Wie die Konkurrenten UPS, DPD und Hermes delegiert auch das seit 2002 zur Deutschen Post AG zählende Logistikunternehmen DHL seine unternehmerische Verantwortung an Subunternehmer.
Deutsche Bahn und Deutsche Post führen vor Augen, worüber die Nachrichtensendungen in Deutschland nur selten berichten: Im Glauben daran, dass Privatisierungen Dienstleistungen besser, billiger und bürgernäher machten, schüttelt Vater Staat seit mehr als drei Jahrzehnten seine Aufgaben ab - wie ein Baum seine Blätter im Herbst: Von 1982, dem Beginn der Ära Helmut Kohl (CDU), bis heute trennte sich allein der Bund von rund 90 Prozent seiner unmittelbaren oder mittelbaren staatlichen Beteiligungen.
Unternehmen wie die Deutsche Bundespost, die Deutsche Bundesbahn, die Deutsche Lufthansa, die VEBA-Gruppe (die nun unter E.ON firmiert), die Immobiliengesellschaft IVG, die Bundesanstalt für Flugsicherung, die Gesellschaft für Nebenbetriebe der Bundesautobahn (nunmehr Tank & Rast) - sie gehörten einst vollständig dem Bund und wurden doch alle privatisiert. Auch auf kommunaler Ebene greift die Entstaatlichung seit vielen Jahren Platz. Allerorten verkaufen Städte und Gemeinden ihre Wohnungen, Stadtwerke und Schulgebäude. Bei zwei von drei Haushalten wird der Müll inzwischen von Privatunternehmen wie den Branchenriesen Alba, Remondis, Sulo oder Veolia entsorgt. Marktmechanismen greifen seit einigen Jahren selbst bei (Hoch-)Schulen, Krankenhäusern und Justizvollzugsanstalten sowie bei Wasser-, Klär- und Elektrizitätswerken. Privatisiert werden neuerdings aber auch Armeen, Gewässer und Sparkassen - stets mit dem Versprechen, alle Bürger würden dadurch gewinnen und keiner etwas verlieren.
Von der immer wieder in Aussicht gestellten Entlastung der öffentlichen Haushalte aber kann keine Rede sein - jedenfalls dann nicht, wenn man auf die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung blickt. So wurden durch die Privatisierung der öffentlichen Infrastruktur allein in den vergangenen zwei Jahrzehnten rund 1,2 Millionen Arbeitsverhältnisse vernichtet. Die historische Sondersituation der deutsch-deutschen Vereinigung, die in den 1990er-Jahren massiven ökonomischen Druck erzeugte, begünstigte das Abschmelzen von Bundesbeteiligungen in einzigartiger Weise. Rechnete man den Ausverkauf des DDR-Vermögens durch die Treuhandanstalt hinzu, bei dem viele volkseigene Betriebe weit unter Wert an teils windige Investoren verschachert wurden, fiele die Privatisierungsbilanz noch sehr viel düsterer aus.
Die kontinuierlich steigenden Kosten, die Bürger für Wasser, Strom und Gas aufbringen müssen, sind das Ergebnis der in den 1990er-Jahren angestoßenen Privatisierungen im Energiesektor - aber die wenigsten Bürger können sich diesen Zusammenhang erschließen. Bildung in der von Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) proklamierten "Bildungsrepublik" kann sich schon jetzt nicht mehr jeder leisten - und trotzdem wächst die Zahl der privaten und damit gebührenpflichtigen Kindertagesstätten, (Hoch-)Schulen und Nachhilfeinstitute seit Jahren. Die mit der Privatisierung der Bundesdruckerei einhergegangene Preisexplosion bei der Ausstellung von Personalausweisen, Reisepässen und Führerscheinen sorgt zwar regelmäßig für Unmut, aber statt auf die Privatisierungspolitik zu schimpfen, verteufeln wir die träge Verwaltung. Und die Wehklagen über das "Unterschichtenfernsehen" von RTL, RTL II und SAT.1 wären hinfällig, wenn die Anfang der 1980er-Jahre vom Bertelsmann-Konzern mit der unionsgeführten Bundesregierung vorangetriebene Privatisierung des Rundfunks unterblieben wäre.
Preiswerter Wohnraum ist nicht mehr nur in Hamburg, München und Köln knapp, sondern in beinahe allen Ballungszentren. Auch in den angesagten Vierteln Berlins, wo Wohnraum lange preiswert war, steigen die Mieten, und die Ärmeren müssen den Wohlhabenderen Platz machen. In allen Kommunen, in denen die Abfallentsorgung, die Energie- und Wasserversorgung sowie die Gebäudereinigung privatisiert wurden, klettern die Preise, mitunter bis aufs Dreifache. In den vergangenen zehn Jahren wurden mehr als 1.100 Schwimmbäder geschlossen. Die teils horrenden Eintrittspreise für privat betriebene "Spaßbäder" können sich finanzschwache und/oder kinderreiche Familien nicht mehr leisten. Der soziale Ausgleich als Prinzip der Sozialen Markwirtschaft bleibt auch im öffentlichen Personennahverkehr auf der Strecke: Bus- und Straßenbahntickets werden regelmäßig teurer, die Taktungen ausgedünnt, Haltestellen aufgegeben.
Obwohl Privatisierungen also offenkundig für die Mehrheit der Bevölkerung beträchtliche und für unzählige Menschen existenzielle Nachteile mit sich bringen, hält sich der öffentliche Unmut in Grenzen. Dabei sorgt sich angesichts des Um- und Abbaus des Sozialstaates nahezu jeder, ob er den Lebensstandard wird aufrechterhalten können - erst recht im Ruhestand. Wie lässt sich dies erklären? Vermutlich weil die Bevölkerung die Verschlechterungen gar nicht mit Privatisierungen in Verbindung bringt, weil diese häufig im Verborgenen, ja mitunter sogar "streng geheim", vor sich gehen. Ein eindringliches Beispiel liefert die Deutsche Bahn, die 2006 mit der "Verschlossenen Auster" ausgezeichnet wurde - dem von der Journalistenvereinigung Netzwerk Recherche e.?V. verliehenen Negativpreis für "Auskunftsverweigerer in Politik und Wirtschaft". Wesentliche Informationen drangen in der "Mehdorn-Ära" nicht an die Öffentlichkeit; die Bahn zog Werbeanzeigen in Medien, die kritisch berichtet hatten, zurück. Als einer der größten Anzeigenkunden im deutschen Verlagswesen und als Abnehmer großer Zeitungskontingente für Erste-Klasse-Reisende und DB-Lounges kann die Bahn die Berichterstattung beeinflussen. So bleiben viele Folgen ihrer Privatisierung im Dunkeln.
Privatisierungen werden auch deshalb zu selten kritisiert, weil sie im Zeitalter des Neoliberalismus als alternativlos wahrgenommen werden. Den meisten Menschen ist nicht bewusst, dass mit Privatisierungen lediglich Symptome kuriert, nicht aber die Ursachen bekämpft werden: Zwar erzielen Kommunen, Länder und der Bund mit Privatisierungen hohe Einmaleinnahmen, über die sich Politiker freuen, weil sie ihnen neue finanzielle Handlungsspielräume eröffn